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Niemand wird unausweichlich in eine bestimmte Position im Leben gezwungen. Jeder von uns hat viele Gelegenheiten, andere Wege einzuschlagen.
Prinzessin Irulan: Gespräche mit Muad'dib
Jessica war überrascht, als Duncan sich im Thopter neben Alia setzte und sich nicht an die Pilotenkontrollen begab, sondern diese Aufgabe einem Fremen-Wachmann überließ. Lächelnd berührte Alia seinen Arm, mit aufrichtiger Wärme und in offensichtlich romantischer Zuneigung. So viel hatte sich auf dem Wüstenplaneten verändert – und im Haus Atreides ...
»Natürlich möchtest du dich vergewissern, dass es den Zwillingen gutgeht, Mutter.« Alia wandte sich an Duncan. »Sag dem Piloten, dass er das westliche Landefeld ansteuern soll. Von dort werden wir direkt zum Kinderhort gehen.«
Der Junge und das Mädchen, Pauls Kinder, würden ihren Vater nie kennenlernen. Die Zwillinge waren die Erben Muad'dibs, die nächste Stufe in einer neuen Dynastie, Figuren auf dem politischen Schachbrett. Jessicas Enkelkinder. »Haben sie schon Namen erhalten? Hat Paul ...?«
»Es war eine der letzten Taten meines Bruders, ihnen Namen zu geben, bevor er ... fortging. Der Junge heißt Leto, nach unserem Vater, und das Mädchen heißt Ghanima.«
»Ghanima?« Gurney runzelte die Stirn, als er den fremenitischen Begriff hörte. »Eine Kriegsbeute?«
»Paul hat darauf bestanden. Harah war bis zum Ende bei Chani, und nun kümmert sie sich um die Babys. Da Harah Muad'dibs ghanima war, nachdem er Jamis tötete, wollte er ihr damit vielleicht eine besondere Ehre erweisen. Wir werden es niemals erfahren.«
Der Thopter flog über die niedrigen Dächer von Arrakeen, die bienenstockartigen Behausungen der unorganisierten, leidenschaftlichen und verzweifelten Menge von Pilgern, Opportunisten, Bettlern, Veteranen des Djihads, Träumern und von jenen, die keinen anderen Platz zum Leben gefunden hatten.
Alia sprach lauter, um das Dröhnen der Motoren und das Sirren der Flügel zu übertönen. Sie wirkte energisch, frenetisch. »Nachdem du jetzt hier bist, Mutter, kann die Trauerfeier für Paul stattfinden. Diese Zeremonie muss von einer Größe sein, die der überragenden Bedeutung Muad'dibs angemessen ist. Sie muss das gesamte Imperium in Ehrfurcht versetzen.«
Jessica wahrte eine neutrale Miene. »Es ist eine Trauerfeier, kein Jongleurauftritt.«
»Sicher, aber selbst ein Auftritt von Jongleurs wäre passend, wenn man Pauls Lebensgeschichte bedenkt.« Alia gluckste. Es war völlig klar, dass sie ihre Entscheidungen längst getroffen hatte. »Außerdem ist die Zeremonie notwendig, nicht nur, um meines Bruders zu gedenken, sondern um die Stabilität des Imperiums zu wahren. Die Macht von Pauls Persönlichkeit hat unsere Regierung zusammengehalten. Ohne ihn muss ich mir große Mühe geben, alle Institutionen zu stärken. Wir brauchen eine große Show, ein Bravourstück. Wie könnte man Muad'dibs Trauerfeier weniger spektakulär inszenieren als die Stierkämpfe des Alten Herzogs?« Als das Mädchen lächelte, erkannte Jessica einen vertrauten Widerhall von Letos Zügen im Gesicht ihrer Tochter. »Wir haben auch Chanis Wasser, und wenn sich eine günstige Gelegenheit ergibt, werden wir für sie eine ähnlich großartige Zeremonie abhalten, ein weiteres Spektakel.«
»Wäre Chani nicht eine Fremen-Bestattung im engsten Kreis lieber gewesen?«
»Stilgar sagt das Gleiche, aber damit würden wir uns eine wunderbare Gelegenheit entgehen lassen. Es wäre Chanis Wunsch gewesen, mich in jeder erdenklichen Hinsicht zu unterstützen – allein um Pauls willen. Ich hatte gehofft, auch auf deine Hilfe zählen zu können, Mutter.«
»Ich bin hier.« Jessica sah ihre Tochter an und spürte, wie eine vielschichtige Form von Trauer in ihrem Innern flüsterte: Aber du bist nicht Paul.
Außerdem wusste sie Dinge, von denen ihre Tochter keine Ahnung hatte, einige von Pauls sorgsam gehüteten Geheimnissen und Sehnsüchten, vor allem, wie er die Geschichte und seinen eigenen Platz darin einschätzte. Auch wenn Paul von der Bühne abgetreten war, würde die Geschichte ihn nicht so schnell aus ihrem Griff entlassen.
Mit flatternden Flügeln und aufheulenden Düsen landete der Thopter auf einem Flachdach des außergewöhnlichen Zitadellenkomplexes. Alia stieg aus und schritt selbstbewusst und anmutig zu einer Tür mit Feuchtigkeitssiegel. Jessica und Gurney folgten ihr in einen eleganten, abgeschlossenen Wintergarten mit hohen Klarplazfenstern.
Drinnen raubte die plötzliche Feuchtigkeit Jessica für einen Moment den Atem, während Alia den Miniaturdschungel aus exotischen Pflanzen, der den Gehweg säumte, gar nicht zu bemerken schien. Sie warf ihr langes Haar zurück und blickte sich zu ihrer Mutter um. »Dies ist der sicherste Bereich der Zitadelle. Also haben wir hier den Kinderhort eingerichtet.«
Zwei mit langen Kindjals bewaffnete Qizara bewachten einen Torbogen, doch die Priester traten ohne ein Wort beiseite, um die Gruppe einzulassen. Im Hauptraum standen drei aufmerksame Fedaykin und hielten Wache.
Dienerinnen in traditionellen Fremen-Gewändern eilten hin und her. Harah, die für Alia einst Kindermädchen und Gefährtin gewesen war, stand über den Zwillingen, als wäre sie selbst die Mutter. Sie blickte zu Alia auf, bemerkte dann Jessicas Anwesenheit und nickte ihr zu.
Jessica trat vor, um Leto und Ghanima zu betrachten. Es überraschte sie, wie viel Ehrfurcht sie vor diesen Kindern hatte. Sie wirkten so makellos, so jung und hilflos. Sie waren erst einen knappen Monat alt. Jessica wurde sich bewusst, dass sie leicht zitterte. Sie verdrängte alle Gedanken an die Dinge, die das Imperium erschütterten und von denen sie in den letzten paar Tagen erfahren hatte.
Als würde eine Verbindung zwischen ihnen bestehen, wandten beide Babys ihr gleichzeitig die Gesichter zu, öffneten die blauen Augen und betrachteten Jessica mit einer Aufmerksamkeit, die sie verblüffte. Auch Alia hatte bereits als Baby diesen Blick gehabt ...
»Es wird genauestens beobachtet, wie sie sich verhalten und interagieren«, sagte Alia. »Kaum jemand dürfte besser verstehen als ich, mit welchen Schwierigkeiten sie es möglicherweise zu tun bekommen.«
Harah meldete sich energisch zu Wort. »Wir geben uns alle Mühe, sie so gut zu versorgen, wie Chani und Usul es gewollt hätten.«
Jessica ging in die Knie und streichelte die winzigen, zarten Gesichter. Die Babys sahen sie an, und dann wechselten sie einen Blick miteinander, bei dem etwas Unbegreifliches zwischen ihnen ausgetauscht wurde.
Für die Schwesternschaft waren Neugeborene nicht mehr als genetische Produkte, Glieder einer langen Kette, in der sich Blutlinien vermischten. Unter den Bene Gesserit wurden Kinder ohne irgendeine emotionale Bindung an ihre Mütter aufgezogen, und häufig wussten sie gar nicht, wer ihre Eltern waren. Auch Jessica, die in der Mütterschule auf Wallach IX aufgewachsen war, hatte nicht erfahren, dass ihr Vater der Baron Harkonnen und ihre Mutter Gaius Helen Mohiam war. Obwohl ihre Erziehung durch die emotional unterkühlten Bene Gesserit alles andere als ideal gewesen war, erwärmte sich ihr Herz für ihre Enkelkinder, während sie an das turbulente Leben dachte, das ohne Zweifel vor ihnen lag.
Und wieder musste Jessica an Chani denken. Ein Leben im Tausch gegen zwei ... Im Laufe der Zeit hatte sie die Fremen-Frau immer mehr für ihre Weisheit und ihre bedingungslose Treue zu Paul respektiert. Wie hatte seiner Hellsicht ein so schrecklicher Schlag wie der Verlust seiner Geliebten entgehen können? Oder hatte er es gewusst, aber nichts dagegen tun können? Eine solche Hilflosigkeit angesichts des Schicksals konnte jeden Menschen in den Wahnsinn treiben ...
»Möchtest du sie in den Armen halten?«, fragte Harah.
Es war schon sehr lange her, seit sie so etwas das letzte Mal getan hatte. »Später. Im Moment ... möchte ich sie einfach nur ansehen.«
Alia war weiterhin völlig in ihren Vorstellungen von Zeremonien und Spektakeln gefangen. »Es sind sehr unruhige Zeiten. Wir müssen noch sehr viel tun, um den Menschen wieder Hoffnung zu geben, nachdem Muad'dib fort ist. Im Anschluss an die zwei Trauerfeiern werden wir schon bald eine Taufe veranstalten. Jedes dieser Ereignisse soll dem Volk ins Gedächtnis rufen, wie sehr es uns liebt.«
»Es sind Kinder, keine Werkzeuge der Staatskunst«, sagte Jessica, obwohl sie es besser wusste. Von den Bene Gesserit hatte sie gelernt, dass jeder Mensch einen potenziellen Verwendungszweck hatte – als Werkzeug oder als Waffe.
»Ach, Mutter, früher einmal hast du viel pragmatischer gedacht.«
Jessica streichelte das Gesicht des kleinen Leto und nahm einen tiefen Atemzug. Doch sie fand keine Worte, die sie hätte aussprechen können. Zweifellos entwickelten sich bereits die ersten politischen Ränkespiele um diese Kinder.
Verbittert dachte sie daran, was die Bene Gesserit mit ihr gemacht hatten – und mit so vielen anderen, die wie sie waren, einschließlich der besonders harten Behandlung, die Tessia zuteil geworden war, der Ehefrau des Cyborg-Prinzen Rhombur Vernius ...
Die Bene Gesserit hatten stets ihre eigenen Gründe und ihre eigenen Rechtfertigungen.